Der Hahn ist tot by Noll Ingrid

Der Hahn ist tot by Noll Ingrid

Author:Noll, Ingrid [Ingrid, Noll]
Language: deu
Format: epub
Published: 2013-05-23T16:00:00+00:00


6

In der letzten Zeit beobachtete ich an mir, daß das überwältigende jugendliche Gefühl des Verliebtseins fast unmerklich schwächer wurde. Schwer zu sagen, ob ich eine gewisse Erleichterung darüber empfand, daß meine Gedanken nun nicht mehr so ausschließlich von diesem großartigen Thema blockiert wurden, oder ob ich traurig war über die zu erwartende Leere des Alters. Aber seltsamerweise rückte etwas Neues ebenso gleitend, schleichend in mein Halbbewußtsein vor, wie die Liebe sich wegzustehlen schien. Das drohende Vakuum des Liebesverlustes wurde dadurch kompensiert.

Es ist nicht leicht, die Anfänge dieser Wahrnehmung plausibel darzustellen: Zum ersten Mal empfand ich auf dem Friedhof jenes phantastische Gefühl der Macht. Später ertappte ich mich, daß mich mitten auf der Straße eine leichte Euphorie überkam: Niemand kann mir ansehen, daß ich zwei Menschen auf dem Gewissen habe und noch weitere umbringen könnte, wenn ich nur wollte.

Im Autoradio hörte ich Lotte Lenya das Lied von der Seeräuberjenny singen: »Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen, und ich mache das Bett für jeden ...«, Jenny hatte sich gerächt für alle Demütigungen. »Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden...«, sang Lotte Lenya mit überzeugender Eindringlichkeit. Auch bei mir wußte niemand, mit wem er redete. Der Chef ahnte nicht, daß er einer Mörderin immer neue unangenehme Aufträge zuschob, Arbeiten, für die er im Grunde zu faul war. Wenn ich in meinem abgelegenen Bürozimmer saß und nach dem gemeinsamen Essen in der Kantine vor meinem geistigen Auge die fressenden und schwafelnden Kollegen Revue passieren ließ, dann rollte so mancher Kopf, und ich sagte bloß »hoppla!«

Macht über andere Menschen war fast besser als Liebe und im Grunde das Gegenteil davon. Wer liebt, ist machtlos, ohnmächtig und abhängig. Und doch wollte ich meine Verliebtheit noch nicht so ohne weiteres streichen, zu stark hatte sie in mein Leben eingegriffen, mir Jugendlichkeit, Schwung und Tatkraft verliehen, ein neues Körpergefühl und eine andere Selbsteinschätzung. Ich wollte weiterhin darum kämpfen, ich wollte noch einmal so einen heiterunbeschwerten Tag erleben wie damals auf unserer Wanderung durch den Odenwald.

Ich tat ein Gelübde, ich betete sogar, obgleich mir mein Glauben von einer unbarmherzig frommen Mutter frühzeitig ausgetrieben worden war. »Falls es dich gibt, Gott«, . sagte ich, »dann schenk mir einmal im Leben das Glück der Liebe, das du anderen Menschen wahllos und reichlich in den Schoß wirfst. Ich habe dich nie um etwas gebeten. Jetzt ist es mir ernst. Wenn es dich geben sollte, dann mach, daß mich Witold liebt und wir uns kriegen. Wenn du aber ungerecht und hartherzig bist und dieses Gebet überhaupt nicht zur Kenntnis nimmst, dann werde ich in Zukunft keine Rücksichten mehr auf deine Gebote nehmen.«

Rosi, du willst den lieben Gott erpressen, dachte ich und mußte lachen.

Von Beates Kindern hörte ich nichts. Obgleich ich früher kaum je einen Gedanken an sie verschwendet hatte, beschäftigte mich jetzt ihr weiteres Schicksal. Ob man Beates Wohnung verkauft hatte? Ich entschloß mich eines Tages, ihre Nummer zu wählen. Der Sohn meldete sich, den ich am wenigsten kannte.

»Tag Richard«, sagte ich leise, »eigentlich wollte ich nur fragen, ob Beate



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